2016
marsch der frauen
EntArteOpera 2016
Projekt Wien 2016
THEMENSCHWERPUNKT Verfemte und Vergessene Komponistinnen
Ausstellung
Marsch der Frauen
Ungehörige Komponistinnen zwischen Aufbruch, Bruch & Exil
charlotte schlesinger
Charlotte Schlesinger
Charlotte Schlesinger war eine der begabtesten Schülerinnen von Franz Schreker.
Als Repräsentantin der ersten Frauengeneration erhielt sie in Berlin ab Mitte der 1920er
Jahre ein fundiertes musikalisches Studium. Ihre kompositorische Karriere nahm jedoch 1933
durch die Machtergreifung Hitlers ein zu frühes Ende. Das erzwungene Exil führte sie mit
Lehrtätigkeiten von Wien über Kiew nach Moskau. Durch den Stalin-Terror bedingt, floh sie
nach Amerika. Als innovative Musikpädagogin konnte sie hier zwar eine neue Existenz aufbauen,
der kompositorische Weg war jedoch wegen des Brotberufs weitgehend beendet. Ihr musikalisches
Vermächtnis harrt in einem „Exilkoffer“ in England der Wiederentdeckung. Die spärlichen Quellen
zu ihrer Lebensbiographie markieren nur Bruchstücke der Verdienste einer Vertriebenen.
„Music is one of the most vital part of our civilization and therefore of indispensable value in our education.” Charlotte Schlesinger
„Ich bleibe im Lande bei Figaro und Kaviar.“ Charlotte Schlesinger
Charlotte Schlesinger (1909–1976) Vertriebene Modernität
Berlin–Wien–Kiew–Amerika von der Komponistin zur Exporteurin einer innovativen Musikdidaktik
Charlotte Schlesinger entstammte einer linksliberalen jüdischen Familie aus Berlin. Sie kam am 19. Mai 1909
als Tochter von Alfred Schlesinger, einem Sologeiger und seiner Frau Anna, einer geborenen Stark, zur Welt.
Schon als Kind dichtete sie gern, besaß einen feinen Humor, schrieb Theaterstücke und zeigte eine ungewöhnliche
musikalische Begabung. Sie erhielt ab dem elften Lebensjahr professionellen Unterricht in Komposition,
Musiktheorie und Klavierspiel. 1925, im Alter von 16 Jahren, bewarb sie sich an der Akademischen Hochschule
für Musik bei Franz Schreker für seine Kompositionsklasse. Zusammen mit ihr traten neun über zwanzigjährige
Männer an. Mit nur drei Bewerbern bestand das Ausnahmetalent den Test.
Bereits 1926, also mit siebzehn Jahren, trat Charlotte Schlesinger während eines Vortragsabends der
Kompositionsklasse von Franz Schreker als Komponistin mit ihrer Doppelfuge für Klavier öffentlich in
Erscheinung. 1928 wurden ihre Fünf Stücke für Oboe, Bratsche und Baßklarinette aufgeführt. 1930 folgte
das mit dem Beethoven-Stipendium ausgezeichnete Streichquartett. 1927 wechselte sie zu Walther Gmeindl
und studierte bei dem Universalmusiker Paul Hindemith. Die Ausbildung in Privatmusikerziehung am Seminar
für Musikerziehung der Hochschule absolvierte sie mit summa cum laude.
Zwischen 1930 und 1933 arbeitete die 21-Jährige als engagierte Pädagogin an der im Seminar integrierten
Übungsschule für Studierende und Kinder. 1930 übergab man Charlotte Schlesinger die Leitung einer
Versuchsschule für Kinder, sie schrieb Rundfunkbeiträge und trat mit eigenen Werken im Radio auf.
Flucht als Export innovativer Musikdidaktik Wien – Kiew – Moskau-Amerika
Neben ihrem Brotberuf widmete sich Charlotte Schlesinger erfolgreich der Komposition, die sich in
Form und Ausdruck den Mitteln der klassischen Moderne bediente. Durch die Machtergreifung von Adolf
Hitler erfolgte im Jahr 1933 die Schließung der Übungsschule, die jüdischen Lehrkräfte wurden
entlassen und Charlotte Schlesinger verlor ihre Anstellung. Sie versuchte ihre Existenz durch eine
Flucht nach Wien zu sichern, wo sie als Lehrerin tätig war. 1935 verlagerte sie, durch den
österreichischen Austrofaschismus gezwungen, ihren Lebensmittelpunkt in die Sowjetunion. In Kiew und
Moskau arbeitete sie am Konservatorium als Konzertmeisterin der Opernklasse, studierte Aufführungen
ein und war mit ihnen im Rundfunk vertreten. Gleichzeitig gestaltete sie eigene Sendungen. Durch den
stalinistischen Terror musste sie erneut fliehen und entkam in die Vereinigten Staaten. Das rettete
ihr in doppelter Hinsicht das Leben. Nach der geglückten Ankunft in Amerika komponierte sie die Kantate
We believe.
Europäischer Kulturtransfer in die Vereinigten Staaten
Zwischen 1938 und 1946 unterrichtete sie das Fach Musik an der Foxhollow School von Lennox in Massachusetts,
einer Privatschule für höhere Töchter. 1946 wurde sie an das Black Mountain College in North Carolina berufen.
Es zählte seit seiner Gründung im Jahr 1933 zu den innovativsten Bildungseinrichtungen der USA. Bis zu seiner
Schließung 1956 bildete es ein einzigartiges Experiment und war damit beispielgebend. Schlesinger gab Kurse
in elementarer und fortgeschrittener Harmonielehre und leitete einen Chor von Studierenden und Lehrenden.
1950 wechselte sie an die Wilson School of Music in Yakima, im Bundesstaat Washington. Dort widmete sie
sich bis 1957, neben ihrer Unterrichtstätigkeit, erfolgreich der musikalischen Erwachsenenbildung. Die
Komponistin und Musikpädagogin blieb zeitlebens ledig. Wegen wachsender gesundheitlicher Schwierigkeiten
kehrte sie 1962 zu ihrem Bruder nach London zurück. Hier starb sie nach jahrelanger schwerer Krankheit
im Alter von 67 Jahren am 14. Mai 1976.
Charlotte Schlesinger steht für eine jener Frauen, der im jugendlichen Alter mit der Machtübernahme
durch den Nationalsozialismus jede weitere Form der Entwicklung ihrer kompositorischen Fähigkeiten
genommen wurde. Vertreibung und Flucht hinterließen zudem eine große Lücke in der über sie existierenden
Quellenlage. Viele ihrer Werke gelten als verschollen. Das hochqualitative Werk der Schülerin von Franz
Schreker und Paul Hindemith verdient jedoch in den musikhistorischen Kontext aufgenommen zu werden.
Dr.in Lisa Fischer
Werkverzeichnis:
Doppelfuge | 1926 | Klavier
Suite für Klavier | 1927 | nur Gavotte
Streichtrio | 1933 | verschollen
Trio für Blasinstrumente | 1933 | verschollen
Oktett für Bläser | undatiert | teilweise verschollen
Fünf Stücke für Oboe, Bratsche und Bassklarinette | 1928 | verschollen
Streichquartett | 1929
Maschine | 1930 | Kantate für Chor und Orchester
Ein Kindergedicht | 1930 | Klavier, Solo und Chor
Fünf Gesänge | 1931 | Sopran und Klavier
Konzertante Suite | 1932 | Orchester
We Believe | 1943 | Chor
Divertimento for two pianos | undatiert
Jubilate, Gloria, Magnificat | undatiert | Chor und Klavier
Who seeks from Heaven | undatiert | Frauenchor und Klavier
Betlehem | undatiert | Solo, Frauenchor und Klavier
Wiegenlied | undatiert | Stimme und Klavier
Radiolied | undatiert | Chor
Marsch | undatiert | Stimme und Klavier
Klavierübungen | undatiert