GALERIE DER ERINNERUNG
dokumentation

EntArteOpera

 
Baruchs Schweigen

2016

baruchs schweigen

EntArteOpera 2016
Projekt Wien 2016


THEMENSCHWERPUNKT Verfemte und Vergessene Komponistinnen


Oper
Baruchs Schweigen
Kammeroper von Ella Milch-Sheriff

Premiere: 7.9., weitere Vorstellungen am 9.9., 13.9., 15.9. und 18.9., jeweils um 19:30
Atelierhaus der Akademie der bildenden Künste Wien, Lehargasse 6-8, 1060 Wien

Österreichische Erstaufführung
Uraufführung: Braunschweig 2010
Libretto von Yael Ronen

Musikalische Leitung // Christian Schulz
Inszenierung // Beverly und Rebecca Blankenship
Ausstattung // Susanne Thomasberger
Lichtraum // Victoria Coeln


Orchester // Ensemble EntArteOpera / Mitglieder der Wiener Symphoniker

Tochter // Hermine Haselböck
Vater // Duccio Dal Monte
Mutter // Ingrid Habermann
1. Frau/Geist/Tochter B // Einat Aronstein
Grossmutter/Geist/Frau B.// Raquel Paulo
Bruder/Geist // Alexander Kaimbacher
Bauer/Rusischer Offizier/Geist // Karl Huml
Kind Geist/Sohn/Bruders Sohn // Jonatan Sushon

Spieldauer 1 1/2 Stunden


baruchs schweigen

Baruchs Schweigen

Die Oper der zeitgenössischen israelischen Komponistin Ella Milch-Sheriff eröffnet dem Publikum den Blick der zweiten Generation nach der Shoa. Der Oper zugrunde liegt das Tagebuch des Vaters der Komponistin, eines traumatisierten jüdischen Holocaust-Überlebenden. In beklemmender Weise und mit hochemotionaler Tonsprache thematisiert die Komponistin die Frage nach dem Weiterleben mit Schuldgefühlen und Albträumen und nach dem Vermächtnis der Geschichte für Töchter und Söhne der Opfer und Täter. Die Oper, eine Mischung aus persönlichem Schicksal und naher Zeitgeschichte, baut eine Brücke in die Gegenwart.
Tochter: Jetzt lerne ich vergeben und vermissen.

Die spektakulären Räume des Atelierhauses der bildenden Künste bilden den außergewöhnlichen Rahmen für eine singuläre Realisierung der österreichische Erstaufführung der Oper Baruchs Schweigen von Ella Milch-Sheriff.


baruchs schweigen

Baruchs Schweigen

Ella Milch-Sheriff ist die Tochter osteuropäischer Shoa Überlebender. Das Grauen der Vergangenheit hat sich in ihrer Familie in die unmittelbar nächste Generation übertragen. Eisiges Schweigen bestimmte das Verhältnis zu ihrem Vater Baruch Milch. Erst schrittweise begreift sie, dass der Grund für das gestörte Verhältnis in dessen Vergangenheit liegt.

Ella Milch-Sheriff hat ihre berührende Lebensgeschichte zuerst als Buch mit dem Titel "Ein Lied für meinen Vater" 2008 veröffentlicht. Das Staatstheater Braunschweig erteilte ihr daraufhin einen Kompositionsauftrag für eine Kammeroper, die 2010 uraufgeführt wurde. Die Oper beruht auf den Tagebuchaufzeichnungen des Vaters der Komponistin aus dem Jahr 1943.

Ihr inzwischen verstorbener Vater fordert im Testament seine Tochter auf, in ihr Elternhaus zurückzukehren. Sie erfährt von dem grausamen Schicksal ihres Vaters, einem jüdischen Arzt während der Nazi-Diktatur, der nie über seine Vergangenheit gesprochen hat. Zudem hört sie erstmals, dass sie einen Bruder hat. Nun wird ihr die Existenz der verstorbenen Familienangehörigen bewusst, die sie zwar als Geister schon immer begleiteten, deren Geschichten sie aber bisher nicht kannte.


baruchs schweigen

Notizen zur Produktion

Das Schweigen regiert. Egal, wie viel wir Nachgeborenen erfahren, wir wissen nie wirklich was unsere Eltern geformt hat. Das Wichtigste, Schlimmste, Schönste im Leben der Eltern wird den Kindern verschwiegen, weil das Erlebte alle Regeln bricht und oft jeden Anstand ignoriert. Jede Familie, jede Gesellschaft kennt und leidet unter diesem Schweigen. Wir werden von den Geheimnissen und Schrecken unserer Eltern und Großeltern geformt, ohne zu verstehen was uns treibt und bedrängt. Die Überlebenden der dunkelsten Zeit des 20. Jahrhunderts waren keine Ausnahme von dieser Familiendynamik. Opfer und Täter schwiegen. Wir leiden noch immer unter ihrem Schweigen. Sie schwiegen um zu überleben. Schweigen war die Regel. So konnten sie irgendwie weitermachen. Und die Kinder und Enkel der Überlebenden tragen Bürden deren Ursprung sie kaum erraten können, sind Opfer von Ereignissen die viele Jahrzehnte zurück liegen. Horror und Schrecken hinterlassen psychische und physische Spuren. Immer mehr Untersuchungen liegen vor, dass Trauma in unserer DNA Spuren hinterlässt.

Was den Überlebenden beim Überleben half, wurde ihren Kindern und Enkeln zur psychischen Falle. Die Kinder wissen nicht, wer schweigend mit ihnen am Tisch sitzt. Die Kinder werden durch Erinnerungen an Erlebnisse geformt, die sie nicht selbst erlebt haben. Das Schweigen ist wie ein schwarzes Loch, das Lebensenergie absaugt und junge Menschenleben verformt. Wie kommen wir aus diesen Fallen heraus?

BARUCHS SCHWEIGEN ist ein Familiendrama unter den schlimmsten Bedingungen, die das 20.Jahrhundert zu bieten hatte, die Studie einer modernen Frau und gleichzeitig ein Eintauchen in immer tiefere Schichten der verborgenen Erinnerung. Als sie endlich an der alles verheerenden Wahrheit angelangt ist, weiß sie, was ihre Kindheit so freudlos gemacht hat. Wer ein Herz hat, leidet an Begegnung mit dem Holocaust. Wer vom Holocaust geformt wurde, gab diese Qual an die Nachkommen weiter. Und sei es nur durch Schweigen.

Das Libretto ist von wunderbarer Schönheit und Dichte, die Musik reißt unsere Herzen mit von den sonnigen Stränden von Tel Aviv in die galizischen Dörfer, in denen unsere Zivilisation zerbrach. BARUCHS SCHWEIGEN ist eine Familiengeschichte, aber wir Zuschauer und Darsteller müssen uns fragen: Wozu ist der Mensch fähig? Was ist Zivilisation? Wie überleben wir den Horror? Was dürfen wir in unserer Not tun und was nicht?

Das Semperdepot in seiner Essenz ist unsere Bühne. Das Semperdepot ist eines der schönsten Zeugnisse der Hochkultur, die das Grauen gebar, zuließ, unterstützte. All diese Schönheit hielt den Terror nicht auf, rettete Baruch und seine Familie nicht. Die Schönheit unserer Kultur diente dem Unmenschlichen in den Menschen.

Baruch ist die Titelrolle. Sein Leiden und sein Schweigen formen seine Tochter, namenlos, und dennoch die Heldin unserer Geschichte. Baruchs Tochter kämpft sich aus dem Schatten des Schweigens, hin zu Verstehen und Heilung durch die Kraft der Musik.

Beverly und Rebecca Blankenship


geschichte

Geschichte

Ella Milch-Sheriff, geboren 1954 in Haifa, wuchs mit ihrer Schwester in einem Elternhaus voller Geheimnisse und Schweigen auf, in dem die Vergangenheit kein Thema sein durfte. Ihr Vater Baruch Milch war ein verschlossener, gefühlskalter Mann, der weder glauben noch lachen konnte. Erst mit dreizehn erfuhr Ella Milch-Sheriff beim Blättern in einer polnischen Chronik von der Ursache, der Tragödie ihres Vaters: In Podhajce, wo sich der Arzt Baruch Milch im Zweiten Weltkrieg mit seiner Familie vor den deutschen Besatzern verstecken musste, waren seine erste Frau Peppa und sein dreijähriger Sohn Lunek bei einer „Aktion“ ermordet worden. Allein Baruch selbst entkam durch einen Zufall dem Massaker und konnte sich nach Israel retten, wo er ein zweites Mal heiratete. Doch die Vergangenheit ließ ihn nicht mehr los, sein Leben war zerstört.

In seinen letzten Lebensjahren (Baruch Milch starb 1989) schrieb Baruch Milch seine Erinnerungen nieder, mit der dringenden Bitte an seine Töchter, diese nach seinem Tode zu veröffentlichen. Zwei Monate nach seinem Tode tauchte im Keller des Jüdischen Historischen Instituts in Warschau ein weiteres, längst verschollen geglaubtes Tagebuch auf: jenes, das Baruch Milch zwischen 1943 und 1944 geschrieben hatte, während der schrecklichen Monate in seinem polnischen Versteck. Das Manuskript, über die Jahrzehnte teilweise verloren und von unbekannter Hand zensiert, ist ein erschütterndes Dokument, das nicht nur Fakten berichtet, sondern auch Einblicke in die psychische Situation der Opfer gewährt. So formulierte Baruch Milch im Jahr 1944, als er alles verloren hatte, seine persönlichen zehn Gebote: „Tu nur, was dir selbst nutzt, und opfere dich nicht für andere“, heißt es da, und „Vertraue keinem“. Das zehnte Gebot ist das resignierteste: „Glaube nicht – der Himmel ist leer!“

„Der Himmel ist leer“, schreibt Baruch Milch. „Mein Himmel ist voller Musik“, antwortet seine Tochter Ella Milch-Sheriff. Die Trauma ihres Vaters verarbeitete sie zunächst in der 2003 erstaufgeführten Kantate Ist der Himmel leer? und später im 2008 veröffentlichten Buch Ein Lied für meinen Vater. Nachdem der Operndirektor am Staatstheater Braunschweig die Kantate gehört hatte, ermutigte er Ella Milch-Sheriff dazu, den Stoff als Kammeroper zu verarbeiten. Uraufgeführt wurde Baruchs Schweigen 2010 in Braunschweig. Die Oper basiert auf den Erinnerungen der beiden Schwestern und auf dem Tagebuch von Baruch Milch aus den Jahren 1943/44, die Lücken konnten mit seinen Erinnerungen aus den 1980er Jahren geschlossen werden.

Die Musik der Oper ist tiefschürfend und komplex, dabei aber durchgehend tonal und eingängig. Ausgehend von einer häuslichen „Anti“-Idylle im ersten Bild verbinden sich Text und Musik zunächst ganz zwanglos zu einem immer packender werdenden Opernthriller, in dem auch lyrische Momente nicht fehlen, etwa im Herzstück der Oper, dem von synthetischen Celestaklängen begleiteten Wiegenlied im vierten Bild, dessen sehnsuchtsvoller Text, „Unter deine weiße Steren streckt zu dir mein weiße Hand...“, eine Art hebräisch gefärbtes Jiddisch ist. Das Orchester besteht aus 14 Instrumenten, darunter ein Keyboard mit verschiedenen Klangfarben. Auffallendstes Merkmal in der Behandlung der Singstimmen sind die „verschobenen“, aber dennoch plausiblen rhythmischen Akzente in Form von zahlreichen Synkopen und Triolen, die der Oper eine ganz eigene Charakteristik mit ausgeprägtem Wiedererkennungseffekt verleihen.

Nach weiteren Inszenierungen 2014 in Tel Aviv und 2015 in Fürth ist die Österreich-Premiere im Semperdepot die mittlerweile vierte Produktion dieser bemerkenswerten Oper, die gute Chancen hat, sich fest im Repertoire der zeitgenössischen Opernproduktion zu etablieren.

Dr. Volkmar Putz